Integrative Medizin: Anders heilen
Schulmedizin und Naturheilkunde müssen keine Gegensätze sein. Wenn Ärzte das Beste aus beidem verbinden kann eine ideale Kombination entstehen
Schulmedizin oder alternative Heilmethode? Beides kann sich ergänzen
nur ist das eine Kassenleistung und das andere IGLeistung
Entweder oder – das muss nicht mehr sein. Eine zunehmende Zahl von Ärzten macht den Brückenschlag über den Graben, der seit Jahrzehnten die „harte“ Schulmedizin von der „sanften“ Naturheilkunde trennt: auf der einen Seite synthetische Arzneimittel, auf der anderen natürliche Verfahren, entweder Wissenschaft oder Erfahrungshintergrund, hier viel Medizintechnik, dort der ganzheitliche Blick auf den erkrankten Menschen. Mittlerweile haben sich beide Welten angenähert – zum Wohl der Patienten.
Hightech-Medizin oder Heilkunde? „Beides, denn die Naturheilkunde ergänzt die Akutmedizin ideal“, ist Dr. Andreas Michalsen überzeugt. Der Chefarzt der Abteilung für Naturheilkunde am Immanuel-Krankenhaus Berlin und Professor an der Charité kennt beide Seiten bestens. Bevor er sich der Naturheilkunde zuwandte, arbeitete er acht Jahre in der Kardiologie und Intensivmedizin.
Das Beste aus zwei Welten
„Unser Gesundheitssystem ist sehr gut in der Akutmedizin, beispielsweise bei der Behandlung eines Herzinfarkts“, sagt der Mediziner. „Aber wenn Erkrankungen chronisch verlaufen, haben wir oft nicht die richtigen Antworten.“ Gemeint ist damit etwa, dass manchen Ärzten bei übergewichtigen Diabetikern mit Bluthochdruck und weiteren Risikofaktoren, die einen Infarkt begünstigen, nicht viel mehr einfällt als Insulinspritzen und sechs bis sieben Tabletten am Tag.
Medikamente bekämpfen zwar Symptome und heilen viele akute Leiden, belasten aber langfristig den Organismus – und eine vorhandene Grunderkrankung lässt sich oft nicht damit kurieren. Das ist die Chance der integrativen Medizin: Mithilfe von Naturheilverfahren sollen die Selbstheilungskräfte angeregt werden. Solche Methoden werden auch als Komplementärmedizin bezeichnet, weil sie ergänzend zur konventionellen Medizin eingesetzt werden, aber nicht stattdessen oder alternativ.
Dass die Naturheilkunde auch unter Ärzten zunehmend beliebter wird, darauf deuten Zahlen der Bundesärztekammer für Zusatz- und Weiterbildungen hin: Mehr als 16.000 Mediziner führen die Bezeichnung „Naturheilverfahren“. Rund 47.000 weitere absolvierten Fortbildungen in Bereichen, die der Komplementärmedizin zugeordnet werden können: Akupunktur, Homöopathie, manuelle Therapie, physikalische Therapie oder Balneologie.
Aber es gibt auch viele unseriöse Behandler und unwirksame Mittel auf dem Markt. „Werden Heilversprechen bei Krebs gemacht, sollen sich Patienten zwischen konventioneller Medizin und anderen Behandlungsmethoden entscheiden oder sind die Angebote sehr teuer, sollte man das äußerst kritisch betrachten“, warnt der Onkologe Dr. Markus Horneber vom Klinikum Nürnberg.
Mittlerweile forschen deutschlandweit mehrere universitäre Fachgruppen zu komplementärmedizinischen Verfahren, um deren Wirksamkeit zu prüfen. Sieben Stiftungsprofessuren sind eingerichtet. In naturheilkundlichen Ambulanzen von Hochschulen beraten Ärzte chronisch Kranke, wie sie ihre konventionelle Therapie ergänzen können. Auch viele Krankenhäuser besitzen spezialisierte Abteilungen für stationäre Aufenthalte.
Für zwei Wochen ist die 58-jährige Hannelore F. in das Immanuel- Krankenhaus gekommen. Massive Beschwerden in den Knien, Schultergelenken und im unteren Rücken plagen sie. Die vielen Schmerzmedikamente, die sie seit Jahren schluckt, schlagen ihr stark auf den Magen. „Irgendwann sagte der Körper einfach stopp. So konnte es nicht weitergehen“, erzählt Hannelore F.. „Ich suchte deshalb eine Klinik, die nicht nur mit Schmerzmitteln an meine Beschwerden herangeht.“
Reize sollen Genesung in Gang setzen
Ihr Programm beginnt um acht Uhr in der Früh mit Bewegung und Dehnübungen im Freien. Danach steht sie in Badeanzug, Turnschuhen und dicken Socken für drei Minuten in einer Kältekammer bei minus 110 Grad. Anschließend strampelt sie sich auf einem Fahrrad-Ergometer wieder warm. Es folgen Schröpfen an der Lendenwirbelsäule, manuelle Therapie gegen den verspannten Nacken, Blutegel für die Kniegelenke. Zwischendurch ein Bockshornklee-Wickel für die Schultern oder ein Paraffinbad für Hand- und Daumengelenke. Zudem: Yoga, Meditation und Entspannung, Schmerzgruppe und Vorträge zur Ernährung.
Das Programm ist intensiv. Aktivierende und entlastende Reize verschiedenster Art sollen Regulationsprozesse im Organismus anstoßen und so die Selbstheilungskräfte anregen. Das ist ein grundlegendes Funktionsprinzip des menschlichen Körpers: Eine Störung des inneren Gleichgewichts, der Homöostase, wird durch die Fähigkeit zur Selbstregulation wieder ausgeglichen. Als Beispiele sind hier die Steuerung des Blutdrucks oder die Anpassung der Atemfrequenz bei Anstrengung zu nennen.
„Die vielen unterschiedlichen Therapien bringen die Patienten über einen Schwellenwert, und sie spüren dann: Etwas wirkt auf meinen Körper ein, und das hilft mir richtig“, beschreibt Mediziner Michalsen den Effekt. „Das ist so, als würden wir beim Körper auf einen Reset-Knopf drücken, um ihn wie einen Computer wieder in den Normalzustand zurückzuversetzen.“ Die Intensität dieser Lebensstiländerungen in so kurzer Zeit sei enorm, insbesondere auch durch das Heilfasten.
Seit fünf Tagen löffelt Hannelore F. morgens und mittags ein Glas Saft, 20 Minuten lang. Abends braucht sie noch länger, weil es außer Saft auch klare Gemüsebrühe gibt. „Ich hätte nie geglaubt, dass ich das Fasten durchhalte und es schaffe, so langsam das bisschen Flüssigkeit zu genießen“, sagt Patientin Hannelore F., die sich als Schnellesserin bezeichnet. Als sie von der Akupunktur am unteren Rücken berichtet, strahlt sie, weil sie danach dort keine Schmerzen mehr hatte: „Ich weiß nicht, wann das zum letzten Mal der Fall war. Es ist schon so lange her.“
Weniger Medikamente möglich
Die Schmerzen kamen zwar zurück, haben aber insgesamt spürbar nachgelassen. Medikamente dagegen nimmt Hannelore F. momentan nicht. Auf einer Skala von 0 („keine Schmerzen“) bis 10 („stärkste Schmerzen“) gab sie am Tag der Anreise den Wert 8 an. Mittlerweile sieht sie sich bei 6,5. Schon nach fünf Tagen fühlt sie sich deutlich erholt und hofft auf die nächste Nadelung, die eine Ärztin mit Akupunktur-Zusatzdiplom bei ihr durchführen wird. „Eine deutliche Verbesserung der Beschwerden“ beschreibt Michalsen als Ziel aller Maßnahmen. Damit einher gehen nicht selten eine Reduzierung der Medikamentendosis und somit weniger Nebenwirkungen und Folgebeschwerden durch wirkungsstarke Mittel.
„Die Patienten erleben außerdem, dass sie selbst etwas für sich tun können, und merken, was ihnen guttut“, erklärt Dr. Anna Paul, Leiterin der Ordnungstherapie an der Klinik für Naturheilkunde und integrative Medizin der Kliniken Essen-Mitte. Sie begleitet Patienten durch die Veränderungen, die infolge der komplementären Verfahren im Körper stattfinden.
Gemeinsam walken sie beispielsweise, üben Entspannungstechniken, geben sich in Gruppengesprächen Feedback. Die Patienten bekommen zudem viele Informationen darüber, wie Lebensstil und Krankheiten zusammenhängen. Sie lernen, was sie selbst für sich tun können und wie sie stressverschärfende und selbstschädigende Gedanken ausschalten. „Denn krank sein ist auch Stress“, sagt Anna Paul. „Weil ich merke, dass ich die Leistung, die ich von mir erwarte, nicht bringen kann – und mit der Zeit nur noch sehe, was nicht mehr geht.“
Die Macht der Gedanken
Deshalb haben Achtsamkeitstrainings in der Mind-Body-Medizin einen hohen Stellenwert. Dabei geht es darum, im Moment zu sein und sich bewusst zu machen, wo man ist, was man macht und wie es einem gerade geht – ohne zu bewerten. „So bringe ich mein ganzes Leben wieder ins Blickfeld“, sagt Paul, „weil ich mich nicht nur auf den Schmerz und die Krankheit fokussiere, sondern auch schaue, was sonst noch ist.“ Das Leiden kann sich so verringern, selbst wenn die Schmerzen noch da sind.
Damit solche Übungen Wirkung zeigen, müssen sie täglich durchgeführt werden, um sie zu einer Gewohnheit werden zu lassen. Die Patienten bekommen Hausaufgaben, die sie in den Tagesablauf einbauen sollen wie eine Mahlzeit: achtsam essen, Minimeditationen oder walken. In der Gruppe wird besprochen, wie es geklappt hat – oder warum nicht. Oft steht dabei die Frage im Raum: Was hindert mich eigentlich daran, etwas für mich zu tun? Ein guter Grund, nichts zu unternehmen, findet sich dann kaum.