"Wir Kranke sind ein Glück für die Allgemeinheit" - Christia

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Miss Excel
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"Wir Kranke sind ein Glück für die Allgemeinheit" - Christia

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Christian Schifferle ist 59 Jahre und Co-Präsident der Wohnbaugenossenschaft Gesundes Wohnen MCS, die er vor 6 Jahren gegründet hat. Er selber ist seit seiner Kindheit MCS-betroffen (Chemikalienunverträglichkeiten) und hatte schon früh Probleme mit ungesundem Wohnraum, mit Wohngiften wie Formaldehyd, Lösungsmitteln, Holzschutzmitteln, Lackierungen, Dieselabgasen, Holzfeuerungen, etc., aber auch mit verrauchten Wohnungen und aggressiv parfümierten Putzmitteln, Waschmitteln und Pestiziden. Später kamen Elektrosensibilität (EHS) und Chronische Erschöpfung (CFS/ME) dazu.

Zusammen mit anderen umweltkranken Menschen wohnt er seit einem Jahr in einem Haus in Zürich Leimbach, in der Schweiz. Das 5 Millionen Projekt, das von der Stadt Zürich unterstützt wurde, ist speziell für MCS- und EHS- Kranke konzipiert (Baumaterial, Lüftungen, Schmutzschleuse…).


Futuremag: Herr Schifferle, Sie leiden an MCS und EHS und sind vor etwa einem Jahr in eine Wohnung für MCS-und EHS-Kranke eingezogen. Worunter leiden Sie am meisten?


Christian Schifferle: Luftbelastungen, chemische Gerüche, Abgase, Rauch, extreme Duftstoffe… Das alles sind Belastungen, die MCS- und EHS- Kranke spüren. Es ist nicht einfach zu erklären. Die Smogbelastung ist auch sehr stark, man bekommt Druck im Kopf, im Gehirn, und ein ungutes Gefühl im Körper, eine gewisse Nervosität, Schlaflosigkeit, kurz, ein Zustand, der dem einer chronischen Grippe ähnelt. Diese Belastungen sind aber etwas sehr normales. Es gibt ja auch Menschen, die wunderbar Pollen ertragen, und andere nicht. Ich selber leide eher an MCS als an EHS, kenne aber beides seit Jahrzehnten.


Wie kann man Multiple Chemikalien-Unverträglichkeit und EHS unterscheiden?

Gute Frage. Es sind verwandte Krankheiten. Beides sind Hypersensibilitäten. Beide beginnen durch Umweltbelastungen, bei den einen ist eine Form der Hypersensibilität stärker als die andere. Bei MCS geht es eher darum, dass man unter der Überbelastung an toxischen, chemischen Stoffen leidet, wobei man bei EHS eher die Überbelastung durch Strahlen nicht oder kaum ertragen kann. In unserem Haus gibt es Menschen, die an beiden Erkrankungen leiden. 50% unserer Bewohner sind davon betroffen.


" Es ist für den Menschen wichtig, ernst genommen zu werden"


Welches sind genau die Symptome dieser Erkrankungen?

Die Strahlen erzeugen Druck im Kopf, der von Konzentrationsproblemen bis zu starker Migräne gehen kann. Vor allem spürbar wird es, wenn man z.B. lange mit dem Handy telefoniert. Dann ist man wie vom Schlag getroffen. Jeder kennt dieses Gefühl, nicht mehr klar denken zu können. Es ist vergleichbar mit Lärm, der einen fast verrückt macht. Wenn die Krankheit ausgeprägt ist, muss man zu Hause liegen bleiben und wird arbeitsunfähig, oder schleppt sich sehr krank und meistens unverstanden durch die Arbeitswelt. 50% der Kranken können nicht ganz normal ins Büro gehen - so wie ich. Die Tatsache, dass die Krankheit schulmedizinisch nicht anerkannt ist, macht es sehr schwer.


Immerhin stufte die Weltgesundheitsorganisation Elektrosmog als „möglicherweise krebserregend“ ein. Was sagen die Ärzte, die Sie kennen, zu Ihrer EHS Erkrankung?


Es gibt zum Glück einige wenige Ärzte, auch bei uns im Haus, die unsere Fälle ernst nehmen - die schätze ich sehr. Die große Mehrheit ist aber leider noch nicht so weit. Dabei ist es für den Menschen wichtig, ernst genommen zu werden: Jeden Tag spürt man, ob man geachtet wird oder ob die anderen meinen, man bilde sich etwas ein. Auch wenn die Krankheitsbilder noch schwer zu diagnostizieren sind, kann man als Facharzt schnell erkennen, ob jemand unter MCS oder EHS leidet, die Symptome sind sehr typisch. Es kann schließlich nicht sein, dass, nur weil noch keine passenden Diagnosegeräte erfunden wurden, die Krankheit als solche als nicht existent betrachtet wird. Früher mussten ja Ärzte auch ohne Geräte auf ihren gesunden Menschenverstand und ihr Gespür hören.


Wie kämpfen Sie dagegen an?

Medikamente wie Tabletten oder pharmakologische Projekte gibt es noch nicht. Das Beste ist das Meiden und Vermeiden - das machen wir zum Beispiel in unserem Haus. Es ist so gut wie möglich, nicht vollkommen, aber viel besser als sonst üblich. Wir sind wie eine Oase, in der sich Menschen erholen. Durch den Schutz unseres Hauses können wir ab und zu in die Stadt gehen und die Belastungen, die wir dort spüren, dann besser wegstecken.


Wie hat sich das auf Ihr Leben ausgewirkt?

Schon als dreijähriges Kind reagierte ich auf bestimmte Dinge allergisch, wurde dann zu schwach, um Schule und Studium abzuschließen. Das Problem mit den Wellen tauchte allerdings erst später auf, vor ungefähr 30 Jahren, mit dem Aufkommen der schnurlosen Telefone. Vor ca. 20 Jahren kamen dann die starken Handystrahlungen dazu. Weil diese Krankheit nicht richtig anerkannt war, wurde ich als arbeitsscheu eingestuft. Es ist ein Überlebenskampf, am Rande der Gesellschaft zu leben. Man wird stark stigmatisiert. Ich habe ca. 20 Jahre in Wohnwagen gelebt, aber nicht, um darin Urlaub zu machen, sondern um Chemikalien und Wellen zu meiden.


"Unsere Aufgabe ist es, uns bemerkbar zu machen"


Wie sind Sie daraus gekommen?

Das waren schwierige Umstände - darum habe ich angefangen, mich zu engagieren, und habe eine Selbsthilfegruppe gegründet. So habe ich andere Menschen kennengelernt und mich an die Medien gewendet. Viele haben sich daraufhin bei uns gemeldet - das hat uns stärker gemacht. Unsere Erkrankung ist schließlich nichts anderes als ein Indikator dafür, dass unsere Gesellschaft sensibler mit gewissen Dingen und den Menschen umgehen sollte. Wir brauchen mehr Rücksichtnahme, ein Umdenken muss eingeleitet werden. Unsere Aufgabe ist es, uns bemerkbar zu machen.


Sie wohnen seit einem Jahr in diesem Haus. Können Sie schon eine erste Bilanz ziehen?

Es brauchte Zeit, so ca. 2 Jahre, bis wir uns in dem Haus gut eingerichtet hatten… Aber schon jetzt kann ich sagen, dass wir alle auf einander Rücksicht nehmen. Bisher ist diese Erfahrung nur positiv. Wir haben ähnliche Sensibilitäten, und dadurch auch mehr Verständnis füreinander. Es ist eine richtige Hausgemeinschaft entstanden. Allerdings müssen wir schauen, dass wir nicht zu viel über die Krankheit reden. Der andere positive Aspekt besteht darin, dass wir tatsächlich einer viel geringeren Strahlenbelastung ausgesetzt sind. Wir leben nicht mitten in der Stadt. Durch die Lüftungsanlagen bekommen wir eine gefilterte Luft. Auch die Qualität der Fenster gewährt einen sicheren Schutz, so dass wir, wenn wir es wollten, in unseren Wohnungen leben könnten, ohne sie zu öffnen. Falls wir es jedoch tun ist es nicht schlimm - der nächste Nachbar mit WLAN wohnt 100 Meter von unserem Haus entfernt. Bei uns sind keine Funktelefone erlaubt. Computer vernetzen wir mit Ethernet-Kabeln - und trotzdem haben wir alle schnelle Internetanschlüsse.


Was bleibt Ihrer Meinung nach zu tun, um Menschen wie Ihnen zu helfen?

Wir sind für eine Vernetzung ohne WLAN und hoffen, dass wir gehört werden. Man kann auch ohne WLAN in Häusern oder Arbeitsräumen leben. Das brauchen wir doch nicht wirklich! Leider bin ich überzeugt, dass die drahtlose Vernetzung zunimmt, was sicherlich zu neuen Erkrankungen bei unseren Kindern führen wird. Wir in der WG möchten also noch mehr machen - andere solcher Wohnungen einrichten, eventuell in anderer Form, und auch Büros - wir wären nämlich alle arbeitsfähig, wenn man auf uns Rücksicht nehmen würde.

Auch die Schulmedizin muss Fortschritte machen, die Verantwortlichen der staatlichen Gesundheitsbehörden müssen Verantwortung übernehmen. Maßnahmen müssen getroffen werden - es geht darum, MCS und EHS nicht nur wahrzunehmen, sondern auch zu handeln, damit Orte geschaffen werden, an denen man ohne Chemikalien und Strahlenbelastungen leben wird. Augenblicklich wird es immer extremer - sogar im Wald hat man Handyempfang, nirgendwo kann man mehr belastungsfrei spazieren gehen. Die Behörden müssen helfen, Oasen wie unsere zu schaffen.



… und sind Sie diesbezüglich zuversichtlich
?

Ja, bin ich. Es gibt Fortschritte. Ich hätte nie gedacht, dass ich das Rauchverbot in öffentlichen Räumen noch erlebe. Und schließlich hat auch das funktioniert. Ich kann endlich wieder in Restaurants essen gehen, ohne vom Zigarettenrauch gestört zu werden. Das wird genauso mit EHS und MCS passieren, allerdings braucht man noch viel Geduld.

Auch die Medien müssen zeigen, dass es ein Thema ist. Der Glaube an einen endlosen industriellen Fortschritt ist eine Illusion, Industrie auf Kosten der Menschen funktioniert nicht auf Dauer, wir brauchen eine vernünftige Gesellschaft. Bestes Beispiel hierfür ist China, das ganz schnell umfangreiche Maßnahmen treffen muss, wenn es seine Bevölkerung nicht vergiften möchte. Wir Kranke sind eigentlich ein Glück für die Allgemeinheit, wir zeigen, dass die Entwicklung zu weit geht. Wenn man so lange einen gewissen Teil der Bevölkerung nicht ernst nimmt, wird es zum Schluss für alle problematisch.
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